Erinnerungen eines alten Mittelschülers
Mit einer Panne fing es an.
Ich war Ostern 1908 in die damalige IX.
Untere Bürgerschule (Pestalozzistraße) gekommen. Mein Klassenlehrer während der
3 Jahre, die ich die Volksschule besucht habe, war F. Schulze. Ich kam mit ihm
sehr gut aus; ob er mit mir, sei offengelassen. Eines
Morgens, es mag im Januar 1911 gewesen sein - es sind nunmehr 40 Jahre her - ,
fragte er mich, ob ich wohl Lust hätte, an eine andere neue Schule zu gehen, wo
man mehr lerne als an der Pestalozzischule. Ich hatte gar keine Lust, aus
dieser Klasse hinauszugehen und mich von dem Lehrer zu trennen, den ich sehr
gern mochte. Dann musste mein Vater zur Schule kommen, der ja sagte. Wenige
Wochen danach waren die Aufnahmeprüfungen in einer Klasse in der Okerstraße. Prüfender war der Lehrer Emil Kamm. Um 9 Uhr
kamen einige wenige Schüler von der Pestalozzistraße mit einem neuen
Schreibheft unter dem Arm in der Okerstraße an und
wollten sich der Prüfung unterziehen. Dort mussten sie feststellen, dass die
Prüfung schon um 8 Uhr begonnen hatte. Heulend kehrten sie nach der
Pestalozzistraße zurück. Der Schaden war aber bald repariert. Nach etwa 8 Tagen
war Nachprüfung für sechs oder acht, denen es ebenso gegangen war wie uns.
Zu Ostern 1911 trat ich als Freischüler in
die Gründungsklasse der Städtischen Knaben-Mittelschule Braunschweig ein. Wir
gingen zunächst zur Okerstraße zur Schule. Der
Schulweg war noch schöner als der zur Pestalozzistraße. Zwar hatte dieser auch
das damals noch unbebaute Ödland zwischen beiden Seiten des Wendenringes
aufzuweisen. Doch auf dem Wege zur Okerstraße lag der
Räubergrund. Dort war Wasser, und gruselige Geschichten von einem alten Hause
begleiteten uns auf dem Schulweg. Vom Unterricht dieser ersten drei Jahre in
der Okerstraße weiß ich nicht mehr viel. In lebhafter
Erinnerung ist mir aber die Einweihung des neuen Gebäudes am Augustplatz. Das
war im Jahre 1914 vor Ausbruch des ersten Weltkrieges. Das Gebäude war
seinerzeit das modernste Schulhaus; plätschernde Springbrunnen auf den Fluren
hatte man in einer Schule in Braunschweig nie zuvor gesehen. Auch Bogengänge
auf dem Schulhof waren eine unerhörte Neuerung. Ein besonderes Schmuckstück der
neuen Schule war die Turnhalle. Hier fand auch die feierliche Einweihung statt.
Unsere Klasse - damals die 4. Klasse der Mittelschule - hatte als die ältesten
Schüler die große Verantwortung für die turnerischen Vorführungen zu tragen.
Ich sehe uns noch in blitzsauberem, weißem Turmzeug unsere Aufschwünge am Reck
- immer vier an einer Stange - machen. Ich sehe auch noch den damaligen Herzog
von Braunschweig in der Uniform der Schwarzen Husaren und eindrucksvoller Suite
durch das Tor der Halle kommen und auf einem Podium am entgegen gesetzten Ende
des Raumes Platz nehmen. Zu diesem Zeitpunkt wurden etwa auch die Schülermützen
der Mittelschule eingeführt. Dunkelgrün, dunkelblau dunkelrot, hellgrün,
hellrot waren die Farben der Klassen, von unten begonnen. Jedes Jahr zu Ostern
trugen wir nicht nur eine Stunde nach auf dem Zeugnis bestätigter Versetzung
die neuen Schülermütze, sondern wir, die Gründungsklasse, hatten außerdem das
einmalige Privileg, neue, bis dahin nie gesehene Mützen in der Stadt
Braunschweig zum ersten Mal zu tragen! Besonders eindrucksvoll war die Mütze
der 1. Klasse in leuchtendem Zinnoberrot, auf die wir so lange stolz waren, bis
wir uns zum ersten Mal mit den neuen Mützen geworfen hatten.
Die Lehrer aus der Gründungszeit der
Mittelschule habe ich noch deutlich vor Augen. Sie waren - nehmt alles in allem
- doch verehrungswürdige Persönlichkeiten. Nur wenige seien hier genannt, die
aus der Schülerperspektive gesehen sich mir in der Erinnerung aufdrängen. Da
ist Gustav Koch, unser Englischlehrer, der uns durch seine saubere und allzeit
gerechte Unterrichtsführung imponierte. Da ist Emil Scholz, bei dessen Namen den älteren der ehemaligen Mittelschüler noch warm ums Herz werden wird. Sein
hervorstechender Zug war Milde, Güte. Besonders zahlreiche Erinnerungen habe
ich an Paul Ramke. Er hatte mich, ich weiß nicht aus welchem Grunde, zu seinem
Hilfsarbeiter auf seinen botanischen Ausflügen erkoren, und so fuhr ich denn Sonntag
für Sonntag in
den Oder, die Asse, den Lappwald, den Elm, die Heide
usw., einen kleinen Rucksack auf dem Rücken. Paul Ramke
grub dort mit seinem kleinen Botanikerspaten Pflanzen aus, und ich trug sie. Es
ist aber nie eine schwere Last geworden. Da ich auf diese Art häufig kostenlos Straßen- und Eisenbahn fahren konnte, in Dorf-
oder Waldgaststätten zu Milch
und Schokoladenkuchen kam, was ich von Haus aus (sechs Kinder, darunter fünf Jungen!) nicht erwarten konnte, ist mir
diese Erinnerung wohl besonders lebendig.
Aber auch tiefe psychologische
Erkenntnisse erwarb ich gelegentlich auf der Mittelschule. So ist mir noch
deutlich erinnerlich, dass ich eines Tages beim Antreten nach der Pause auf dem
gewohnten Platz unserer Klasse allein stand. Dann schoss es mir durch den Kopf,
„wir haben ja
jetzt Turnen!" Also schleunigst in den Vorraum der Turnhalle und sich
umgezogen. Diese Einsicht „wir haben ja jetzt Turnen" ist mir damals - dessen bin ich
mir ganz deutlich bewusst - wortlos gekommen, d.h. der Gedanke war auch in
meinem Kopf nicht in Worte geformt, sondern eine wortlose innere Einsicht,
womit für mich - für andere kann dieser Beweis nicht schlüssig sein - erwiesen ist, dass Gedanken
und Einsichten, auch Entschlüsse, nicht an das Sprechen gebunden sind.
In den Jahren, da ich die Mittelschule
besuchte, stiftete der Herzog von Braunschweig für besonders begabte, würdige und bedürftige Kinder der Hauptstadt ein
besonderes Stipendium. Es betrug 120 Mark jährlich. Auch ich bekam ein solches
Stipendium und war auf der Mittelschule also nicht nur Freischüler, sondern auch sog. „Herzogsschüler".
Ostern 1917 hatten wir die 1. (oberste)
Klasse der Mittelschule hinter uns. Die Mittelschule hatte damals noch nicht
das Recht, das Zeugnis der mittleren Reife zu erteilen. Wir mussten vielmehr im
Februar oder März 1917 in die
heute zerstörte
Kreisdirektion am Eiermarkt gehen, um uns dort von einer Kommission von
Offizieren besonders prüfen zu lassen. Die schriftliche Prüfung hatte vorher im Gildehause
stattgefunden. Aus der 1. Klasse der Mittelschule wurden 17 zur Prüfung gemeldet, von denen aber nur vier
bestanden. Von den vier Freischülern der Klasse hatte zwei (darunter auch ich) die Prüfung mit Erfolg abgelegt.
Als ich nach Hause kam, wartete ich mit
einiger Ungeduld auf die Heimkehr meines Vaters, dem ich - so hatte ich es mir
ausgemalt - auf seine Frage, ob ich bestanden hätte, mit nachlässiger Selbstsicherheit und gut gespielter
Bescheidenheit sagen wollte: „ja, natürlich". Ich hörte den vertrauten Schritt meines Vaters auf der Treppe, hörte ihn die Korridortür öffnen. Ich saß in unserem Kinderpult, in dem wir in häufig durch Kampf entschiedener Reihenfolge
unsere Schularbeiten machten und tat so, als ob ich läse. Der Vater kam herein, setzte sich wie
gewöhnlich in die
Sofaecke, griff zur Zeitung. Ich war maßlos ergrimmt, dass er den großen Tag seines zweiten Sohnes total
vergessen hatte, beherrschte aber meine fünfzehnjährige Ungeduld. Nach einer guten
Viertelstunde erhob sich mein Vater aus dem Sofa und legte mir schweigend 20
Mark auf das Pult. Was 20 Mark für den Fünfzehnjährigen einer kinderreichen Familie damals
bedeuteten, kann sich unsere Generation kaum noch ausmalen. Für meinen Vater war es fast ein Wochenlohn.
Als ich dann noch den Verständnislosen spielte - mühsam genug, aber, wie ich mir einbildete,
doch ziemlich geschickt - sagte mein Vater: „Das ist für die Prüfung." Ich fragte etwas borstig: „Weißt du denn überhaupt, ob ich bestanden habe?"
Ruhig antwortete er: „Ja." Erst später habe ich erfahren, dass er während der Prüfung noch ungeduldiger und aufgeregter war
als ich. Er hatte sich zu der Zeit, wo die Prüfung zu Ende sein musste, ständig in der Nähe der Kreisdirektion aufgehalten, einen
der Herauskommenden (Karl Stein von der Lampestraße) nach dem Ausgang befragt und so
erfahren, dass ich zu den Glücklichen gehörte. Mehrere Schüler aus der Gründungsklasse der Mittelschule gingen im Frühjahr 1917 auf das damalige Herzoglich-Braunschweigische Lehrerseminar über. Als „Einjähriger" hätte ich in die 3. Klasse des Seminars
eintreten sollen. Aber da ich noch recht jung war - ich zählte stolze 15 Jahre -, musste ich mich
mit der 5. Klasse bescheiden, wo ich immer noch zu den Jüngsten gehörte. Die ehemaligen Mittelschüler hatten in dieser Klasse des Seminars
manchen Vorsprung vor ihren Kameraden, die erst vor einem Jahr aus der obersten
Klasse der Volksschule in das Seminar eingetreten waren. So sehr uns dieser
Vorsprung die Arbeit erleichterte und uns stolz machte, so wenig bekömmlich ist eine solche Lage. Es ist weit
besser, man muss mit gleich bleibender Anstrengung arbeiten, als dass es einem
teilweise leicht fällt und anschließend dann angezogen werden muss. Die Arbeitsmoral leidet unter
solchen Bedingungen. - Auch unser Vertrauensmann in dieser Seminarklasse war
ein ehemaliger Mittelschüler, Robert Hecker, ein hochbegabter Freund, der noch während der Seminarzeit starb. Es sind
lauter Nichtigkeiten, aber Nichtigkeiten der Art, die wohl Wilhelm Raabe meint,
wenn er etwa sagt:
„Oh verstehet es nur, Blumen zu streuen
zwischen die öden Blätter des Lebens! Ihr werdet keine Reue
empfinden, wenn Ihr zurückblättert und auf die vergilbten Andenken trefft."
Heinrich Rodenstein
Aufsatz in der Festschrift zur
40-Jahr-Feier der Knaben-Mittelschule am Augustplatz zu Braunschweig, 1951