Schule und Lehrerschaft
im Wandel
Die Schule erlebt zur Zeit ihre umfassendste Wandlung. Der erste Aspekt
betrifft die Stellung der Schule in der Gesamtheit der Informationsmöglichkeiten.
Jahrhunderte lang war die Schule die ergiebigste Quelle, um etwas zu lernen.
Nur in der Schule konnten alle etwas über fremde Völker und Länder, über
seltsame Pflanzen und Tiere, über den Grund des Ozeans und die Gipfel der
höchsten Berge erfahren. Nur in der Schule wurde das Auge des Schülers in die
Vergangenheit gerichtet, und es wurde versucht, ihn die Urzeiten menschlicher
Geschichte und auch die Höhepunkte untergegangener Kulturen bildhaft
nacherleben zu lassen. Nur die Schule unternahm es auch - zugegebenermaßen gar
zu zaghaft - den Sinn des Schülers auf kommende Dinge zu richten. Diese Lage
hat sich von Grund auf geändert. Rundfunk und Fernsehen, Kino und Zeitschriften
haben die Schule von ihrem Thron gestoßen. Blass und armselig muss der
Lehrervortrag, auch wenn einige Bilder ihn unterstützen, über Südamerika bleiben,
wenn er in Konkurrenz zu einem Fernsehfilm »Im Faltboot den Amazonas hinunter«
treten muss. Die Massenmedien sind von einer Mächtigkeit und Eindringlichkeit,
die die Schule nur in seltenen Sternstunden erreichen kann. Wir müssen fragen,
inwieweit die Massenmedien Aufgaben der Schule übernehmen können. Wir müssen
weiter fragen, wieweit die Schule sich der Massenmedien bedienen kann.
Der zweite Aspekt ist
die Tatsache, dass Schule und Gesellschaft sich ihrer gegenseitigen
Abhängigkeit voll bewusst werden. Die Schule übernimmt die Forderung nach
allgemeiner Demokratisierung unseres öffentlichen Lebens. Sie strebt nach den
gleichen Bildungschancen für alle und fragt z. B., wie man auch den Kindern von
Arbeitern, denen vom Lande, besonders den Mädchen, und wiederum speziell den
katholischen Kindern, die gleichen Bildungschancen gewährleisten kann. Es
genügt ja offensichtlich nicht, die Tore der Schule für alle zu öffnen. Wer von
zu Hause aus schon benachteiligt wurde, findet den Weg auch in diese offenen
Türen nicht. Es ist fast schon eine Binsenwahrheit, dass es neben der nachweislichen,
ausgeformten Intelligenz eines Kindes auch noch eine latente, nicht ausgeformte
geben kann. Kinder, die besonders viel dieser latenten, nicht ausgeformten,
durch Tests kaum zu ermittelnden Intelligenz besitzen, erscheinen dann als
unbegabt. Die soziale Gerechtigkeit und das wirtschaftliche und politische
Interesse unseres Volkes gebieten, diese schlummernde Intelligenz zu wecken,
sie auszuformen, sie sichtbar und aktiv zu machen. Die Gesellschaft wird sich
ihrer Schule bewusst. Schule ist auch wirtschaftliche, politische und
gesellschaftliche Sicherung der Zukunft. Schulausgaben sind Investitionen, die
nicht nachgeholt werden können, wenn sie einmal versäumt wurden.
Eines aber ist sicher:
Wir müssen mit umstürzlerischen Wandlungen in der Struktur unserer Schulen
rechnen. Riesige Fehlinvestitionen kommen auf uns zu, wenn wir dieses
übersehen. Wenn wir schon nicht sofort einen perfekten Plan der künftigen
Schulstruktur vorlegen können, so sollten wir wenigstens den Weg gehen, der uns
am sichersten vor Fehlinvestitionen bewahrt. Wir sollten keine isolierte
Schule, welcher Art auch immer, mehr bauen. Sie wird morgen zu klein oder zu
groß oder am falschen Ort aufgestellt sein. Wir sollten uns entschließen, nur
noch Schulzentren zu errichten, wo eine ganze Gruppe von Schulen der
verschiedensten Art zusammen liegt, so dass ein Austausch von Schülern, Lehrern
und Räumen möglich ist.
Diese Schulzentren könnten
sich zu Bildungszentren ausweiten, wenn nämlich Einrichtungen der Erwachsenenbildung,
große öffentliche Büchereien, Spiel- und Sportplätze und manches andere
angefügt würden. Finanzminister brauchen nicht einmal besonders aufgeklärt zu
sein, um dieser Forderung nach Schulzentren und Bildungszentren zuzustimmen.
Nicht nur die Wirtschaft
bedarf solcher Instrumentarien wie »Mittelfristige Finanzplanung«,
»Konzertierte Aktion«, »Flankierende Maßnahmen«, »Soziale Symmetrie«.
Langfristiges Planen wird für die Bildungspolitik ebenso unerlässlich wie für
unsere Volkswirtschaft. Der dritte Sektor, auf dem ein tiefer Wandel sich
bereits ankündigt, ist die Lehrerschaft.
Mehr als hundert Jahre
war, zumindest in der Volksschule, der Allround-Lehrer typisch. Er war in der
Regel der jeweils einzige Lehrer, mit dem die Schüler zu tun hatten. Das war
Glanz und Elend dieses Berufes. Keine andere Form des Lehrerberufes gestattet
eine so komplexe und intensive pädagogische und unterrichtliche Arbeit am
Schüler wie die des Allround-Lehrers. In keiner anderen aber rächt sich jede
Lücke und jede Schwäche des Lehrers bitterer als in dieser.
In unserer Zeit erleben
wir nun, dass der Fachlehrer eine auch für unsere Schule typische Form des
Lehrers wird. Mögen auch manche Abgrenzungen noch unbestimmt sein, die allgemeine
Tendenz ist unverkennbar. Der Fachlehrer und das Schulzentrum bedingen
einander. Nur bei einer hinreichend großen Zahl von Schülern, die hinreichend
gleichmäßig auf Altersstufen verteilt sind, kann eine Unterrichtsorganisation geschaffen
werden, die den Fachlehrer voll rentabel macht.
Auf einen Nebenaspekt
sei zumindest im Vorbeigehen hingewiesen. Der Allround-Lehrer konnte jederzeit
nach überallhin versetzt werden. Auch seine eigenen Wünsche nach Veränderung
stießen kaum auf Grenzen. Der Fachlehrer aber ist ein Glied in einem komplexen
Ganzen. Er kann nicht nach Belieben ausgetauscht werden. Damit wird auch die
freie Wahl des Arbeitsplatzes für den Lehrer empfindlich eingeschränkt. Wir
meinen aber, dass die bestmögliche Organisation unseres Schulwesens Vorrang hat
vor den persönlichen Interessen der Lehrer. Damit löst sich auch die große
Einheitlichkeit der Lehrkörper auf. Die Form der modernen Gesellschaft ist die
vertikal und horizontal gegliederte Gruppe. Menschen unterschiedlicher Bildung
und ungleicher Verantwortung arbeiten in organisch gegliederten Teams zusammen.
Die Lehrerschaft ist hinter dieser allgemeinen Entwicklung erheblich
zurückgeblieben. Sie ist immer noch viel einheitlicher als sie es nach Lage der
Dinge, d. h. nach der Art ihrer Aufgabe, sein dürfte. Man vergleiche nur das
hoch gegliederte Personal eines Krankenhauses mit dem eines großen Schulzentrums
von heute, so wird diese Rückständigkeit der Schule offenbar.
Noch sind nicht alle Gruppen
in scharfen Rändern vorstellbar. Einiges aber lässt sich doch mit Sicherheit
sagen. Da ist zunächst der eigentliche Lehrer, der einer soliden
wissenschaftlichen Berufsvorbereitung und einer ebenso soliden praktischen
Berufsausbildung (Referendariat) bedarf. Er ist nach Sachgebieten und Stufen
spezialisiert. Die Spezialisierung aber muss einen sehr breiten Sockel haben,
der allen Lehrern gemeinsam ist. Auch das erfordert die Art des Auftrages.
Dieser Lehrer ist sicher
hauptamtlich und wird wahrscheinlich noch lange Zeit den Beamtenstatus haben.
Daneben aber wird es Hilfskräfte geben, die auch hauptamtlich sind, nicht unbedingt
der gleichen wissenschaftlichen Vorbildung bedürfen und vielleicht auch nicht
Beamte sein müssen. Je mehr die Schule sich auch technischer Mittel bedient,
desto dringender wird der Techniker in der Schule gebraucht.
Soll die Schule auch an
die Arbeitswelt oder darüber hinaus an die moderne Gesellschaft im Ganzen heranführen,
bedarf sie der vielfachen, gelegentlichen Mitarbeit gewisser Fachleute
außerhalb der Schule. Das kann periodisch oder sporadisch für gewisse Zeiträume
oder immer nur einmalig geschehen. Hier würde die Schule durch viele Fäden mit
der Außenwelt verknüpft. Die ersten Ansätze in dieser Richtung sind deutlich zu
erkennen. Wahrscheinlich werden tief greifende Wandlungen im Verwaltungsrecht
und im Haushaltsrecht vor sich gehen müssen, um einen solchen Arbeitsstil
aufzufangen. Und wenn man schließlich an den Aspekt des Zwanges zur Kooperation
denkt, so muss man an neue Aufgaben für die Lehrerschaft und auch ihre Gewerkschaft
denken. Moderne Gesellschaft verlangt großräumige und langfristige Planung. Das
bewirkt - man möge es wollen oder nicht - eine Konzentration von
Verfügungsgewalt an den Stellen, wo die Planung dirigiert wird. Das kann eine
tödliche Gefahr für die Mitverantwortung des Bürgers und die demokratische
Struktur im Allgemeinen werden. Ihr sind nur zu begegnen, wenn diejenigen, die
die Planungsmacht in Händen haben, sich fortgesetzt einer Kooperation mit allen
Beteiligten verpflichtet fühlen. Konkret bedeutet es, dass die Mitglieder
dieser Planungszentren sich ständig, mit allen interessierten Gruppen im Volke
offen diskutierend, informieren und notfalls korrigieren lassen müssen.
Unter diesen Aspekten
gesehen bietet das Schulwesen der Bundesrepublik das Bild gefährlicher
Rückständigkeit. Kleine und kleinste konservative Gesichtspunkte beherrschen
nach wie vor die Diskussion. Politiker fragen sich gar zu oft, ob es nicht
wahlpolitisch abträglich sei, allzu kühne Vorstellungen über die Schule von
morgen zu entwickeln. Sie enthalten ihre modernen Auffassungen der
Öffentlichkeit vor, weil sie fürchten, es könnte sie Wahlstimmen kosten, sich
dazu zu bekennen. Das ist ein erheblicher Nachteil der Wählerdemokratie. Er
kann dadurch ausgeglichen werden, dass diejenigen, die diese Rücksicht nicht zu
nehmen brauchen, die erforderliche Kühnheit aufbringen. Auch eine so große
Organisation wie die GEW muss Wert darauf legen, eine Politik zu vertreten, die
von den Tausenden ihrer Mitglieder zumindest toleriert wird. Denn unsere Macht
liegt immer noch in unserer Zahl. Das ist vielleicht nicht edel, aber einfach
wahr. Wahr ist aber auch, dass wir so viel Rücksicht wie mancher Politiker nicht
zu nehmen brauchen, und dass der GEW mehr Kühnheit erlaubt ist als denen, die
von Wählerstimmen abhängen. Diese Kühnheit sollten wir unserer GEW für alle
Zukunft wünschen und hoffen, dass die große Zahl der Lehrer solche Kühnheit
immer toleriert.
Heinrich Rodenstein
(Aufsatz in der Festschrift zur
Vertreterversammlung des GNL 1968 in Braunschweig)