Um die Toleranz in Niedersachsen.

In der letzten Nummer der "Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung" wird folgende Äußerung Robert H a e r d t e r s, die vor einiger Zeit in der "Gegenwart" erschien, wiedergegeben:
"Das deutsche Volk ist nicht – wie Italien oder Spanien - ein katholisches, oder - wie Schweden und Norwegen - ein protestantisches Volk. Es ist auch nicht, wie England oder die Schweiz, ein tolerantes Volk. Es ist ein in Konfessionen, in politischen und christlichen Konfessionen existierendes Volk, dem es noch immer aufgetragen ist, unter Hintanstellung und Überwindung seiner historischen Parteiungen ein einiges Volk zu werden. Die christlichen Konfessionen sollen nicht ausgeschlossen sein, zu dieser Selbstversöhnung der Deutschen ihr Teil beizutragen, indem sie jene christliche Tugend pflegen und fördern, die unserem politischen Charakter und unserem politischen Leben so sehr ermangelt: die Toleranz."

Eine bedrückende Bestätigung dieses geistigen Übels im Deutschland nach 1945 ist der schon seit langem von der katholischen Aktion in Niedersachsen entfesselte Kulturkampf, der voraussichtlich in den ersten Monaten des neuen Jahres, wenn das Schulverwaltungsgesetz verabschiedet und ein e c h t e s Schulgesetz, also ein Gesetz über die Schulpolitik des Landes Niedersachsen, vorgelegt und zur Entscheidung gestellt wird.

Die Niedersächsische Regierung im Allgemeinen und ihr Kultusminister im Besonderen verdienen den Vorwurf, einen Kulturkampf entfesselt zu haben, keineswegs. Oft wurden sie sogar von politischen Freunden gescholten, weil sie den konfessionellen Frieden erhalten und dafür einen hoben Preis zahlen wollten.

Die Frage der Pädagogischen Hochschule Osnabrück und das künftige Schulgesetz haben nun alle Argumente für und wider lebendig gemacht und die Streiter hüben und drüben auf die Schanzen gerufen.

Der unbefangene Chronist wird einmal berichten müssen, dass auf Seiten der weniger als 20 % der Bevölkerung ausmachenden Katholiken einige Wortführer im Streit ihre Besessenheit so weit getrieben haben, dass sie glaubten, im Dienste ihrer vermeintlich höchsten Sache weder Fairness noch Wahrheitsliebe zu schulden. Einige erschütternde Beweise für diese Behauptung ergab der Streit um die Pädagogische Hochschule Osnabrück. Dabei ging es um nichts anderes als die Verlegung der Adolf-Heichwein-Hochschule, bisher in Celle, nach Osnabrück. An diesen Vorgang, der nur aus Raumgründen und Standortüberlegungen zustande kam, knüpften katholische Kreise, auf die das eingangs zitierte Wort Haerdters voll zutrifft, die Forderung nach einer dritten katholischen Pädagogischen Hochschule in Niedersachsen, obgleich gerade die achtjährige Geschichte dieser niedersächsischen Hochschulen ein schöner Beweis dafür ist, dass bei gutem Wollen auch ungeschriebene Gesetze gelten können. In Hirtenbrief und Nachrichtendienst wurde der Ministerpräsident beschuldigt, ein gegebenes Versprechen auf eine erneute Verhandlung nicht gehalten zu haben, obgleich Hinrich Kopf auf ausdrücklichem Wunsche der katholischen Gesprächspartner auf diese Besprechung verzichtet hatte. Katholische Bewerber der Pädagogischen Hochschule Osnabrück werden nun dadurch in Gewissensnot gebracht, dass der bischöfliche Stuhl sich weigert, die missio canonica an Absolventen der Hochschule unter denselben Bedingungen erteilen zu lassen, wie es seit je in Celle möglich war.

Hat schon dieser unselige Streit um eine verlegte Pädagogische Hochschule sogar sehr duldsame Kreise in Niedersachsen gegen diese Abart totalitären Denkens aufgebracht, so offenbart die nunmehr entbrennende Diskussion um das eigentliche Schulgesetz, dass die 80% Nichtkatholiken und - zu ihrer Ehre sei es gesagt - auch Teile der katholischen Bevölkerung es allmählich satt haben, unser öffentliches Schulwesen ausschließlich nach den Grundsätzen päpstlicher Enzykliken gestaltet zu sehen. Gegen die naturrechtliche Auffassung vom ferngesteuerten Elternrecht, das dann zu einer von der Kirche völlig beherrschten öffentlichen Schule führt, werden von den einsichtigen Bürgern unseres Landes u.a. folgende Gegengründe geltend gemacht:

1) das schwere Schicksal unseres Volkes nötigt uns mehr denn je zur Betonung der Gemeinsamkeiten und zur Übung im Miteinanderleben auch bei unterschiedlichem Denken.

2) Hätte man je gehört, dass ein evangelischer Angeklagter vor Gericht darauf besteht, nur von evangelischen Richtern abgeurteilt zu werden, oder dass ein katholischer Unternehmer nur an katholischen Kunden Geld verdienen möchte?

3) Die Aufspaltung des öffentlichen Schulwesens (aus taktischen Gründen spricht man z.Zt.  nur von der Volksschule. Wie aber die Äußerungen höchst zuständiger Kirchenmänner beweisen, kommen alle Schularten dran, sobald das aussichtsreich erscheint) würde die Leistungsfähigkeit der Schulen herabsetzen.

4) Schulraum- und Lehrernot würden noch drückender.

5) An vielen Orten müssten konfessionelle Minderheiten eine konfessionelle Schule eines anderen Bekenntnisses besuchen und würden in ihrem Gewissen belastet. Wo bleibt das Elternrecht für diese Minderheiten?

6) Häufig gehören nur die Flüchtlinge eines Ortes einer anderen Konfession an als die Eingeborenen. Wer möchte eine Aufspaltung unseres öffentlichen Schulwesens in Sonderschulen für Flüchtlinge und solche für Einheimische verantworten?

7) Sollen etwa die Schulhöfe durch einen Drahtzaun in einen evangelischen und einen katholischen Teil aufgeteilt und damit die Schulkinder zum Werfen von Steinen geradezu eingeladen werden?

8) Fordert man von den Lehrern, dass sie unsere Jugend zu selbstbewussten und die Freiheit achtenden Staatsbürgern heranzieht, so müssen die Erzieher vor allem Selbstbewusstsein besitzen und Freiheit achten und üben dürfen. Eine Lehrerschaft, die vor jedem Prälatenhut ihre Knie beugen muss, kann den Aufgaben eines Erziehers in unserer Zeit nicht gerecht werden.

9) Das Grundgesetz gebietet, dass der Zugang zu den öffentlichen Ämtern unabhängig vom Bekenntnis ist. In einem konfessionellen Schulwesen, dessen Lehrer immer noch beamtet sind, muss das Grandgesetz ständig verletzt werden.

10) Eine recht verstandene akademische Lehrerbildung erfordert auch, dass die Lehrerstudenten Freizügigkeit genießen, und dass sie das Recht auf freie Begegnung mit allen geistigen Gütern unserer Zeit haben. Eine konfessionell gebundene Lehrerbildung muss dieses Recht auf Freizügigkeit und freie Begegnung mindestens unvollständig lassen.

Über Sonderregelungen lässt sich im einen oder anderen Falle sehr wohl sprechen. Im Ganzen aber dient unserem Volke und der Menschheit das Miteinander mehr als jeder geistige Separatismus.

Wir möchten, dass der niedersächsische Landtag bei dem kommenden Schulgesetz an und für das ganze Volk denkt, und dass kein Abgeordneter sich als Beauftragter nur eines Teiles der Bevölkerung fühlt.

Prof. H. Rodenstein

Dezember 1953