Vor 40 Jahren begann der Zweite Weltkrieg

Rede während der Gedenkstunde am 31.8.1979 in Braunschweig

 

(Gespielt wird der Badenweiler Marsch)

 

Meine Damen und Herren, verehrte Gäste!

Sie hörten den Badenweiler Marsch, den Lieblingsmarsch Adolf Hitlers, der ihn zum Repräsentationsmarsch des Dritten Reiches machte.

 

Alle Regime bedienen sich auch der Musik, fast aller Musik, auch gegensätzlicher gleichzeitig. Stand der martialische, pathetische, aber doch klassische Badenweiler Marsch im Schaufenster der nationalsozialistischen Bewegung, so doch nicht allein. Weit volkstümlicher war das „Horst-Wessel-Lied“, eine ordinäre Schnulze zu Ehren eines miesen SA-Mannes, den kein anständiger Bürger, mochte er auch immer wieder Adolf Hitler wählen, in seine Wohnung gelassen hätte. Und am Ende stand die Edel-Schnulze Lili Marleen, in Wort und Ton ganz Sehnsucht und Schmerz, darum auch von den Soldaten aller Armeen des Zweiten Weltkrieges in vielen Sprachen gesungen. Nur die Jugoslawen brachten es nicht über ihre Lippen. Der „Soldatensender Belgrad“, der das Lied allabendlich ausstrahlte, war ihnen zu schmerzlich nahe. Schnulzen aber sind offenbar ein menschliches Urbedürfnis.

 

Das „Dritte Reich“ und die Musik, der Krieg und die Musik sind lohnende Themen, auch wenn sie heute Abend nicht im Mittelpunkt stehen können.

 

Denn jede Erinnerung an den 1. September 1939 ist vor allem eine Erinnerung an millionenfachen Tod, millionenfaches Leid, millionenfaches Elend, millionenfache Zerstörung und millionenfache Hoffnungslosigkeit. Sie ist auch Erinnerung an millionenfaches Verbrechen und Millionenfachen Missbrauch naiver Gutgläubigkeit und blinder Gefolgstreue. Diese Erinnerung schulden wir den Opfern und ihren Hinterbliebenen.

 

Unserer Nachkriegsgeneration aber sind wir schuldig, zu erklären, wie es zu diesem 1. September 1939 überhaupt kommen konnte und ob es dazu kommen musste.

 

Das aber ist dreifach schwer. Die erste Schwierigkeit ist psychologischer Art und betrifft uns – die Zeitgenossen Adolf Hitlers. Wer gesteht schon gern ein: „Ich war zwar dagegen, habe alles kommen sehen, war aber zu feige, mich von allem Anfang an mit allem Risiko dagegen aufzulehnen. Schließlich wären Helden und Heilige nicht so berühmt, wenn es ihrer nicht so wenige gäbe.“ Oder etwa: „Ich bin hereingefallen auf die raffinierte Propaganda.“ Oder etwa: „Wer konnte den ahnen, dass das dazu führen würde?“

 

Die zweite Schwierigkeit ist auch psychologischer Art und betrifft unsere Jungen, die Fragenden also. Sie, die in ihrem jungen Leben nur ständig steigenden Wohlstand und keinen Krieg um ihr Land erlebten, können nur mit größter Mühe nachvollziehen, was in Deutschland von 1918 bis 1939 vor sich ging. Und das ist die dritte, eine objektive Schwierigkeit. Dieser Zeitraum war so turbulent, dass es schwerlich umfassend dargestellt werden kann. Einfach und schnell geht es gar nicht. Kein Wunder, dass unsere Jungen zu selten und zu einfach fragen. Kein Wunder auch, dass wir Älteren zu ungern und zu selten rückhaltlos antworten.

 

Doch nun zum 1. September 1939, unserem Gedenktage. Erinnern wir uns zunächst des rein militärischen Ablaufs.

Der Ausbruch des „Zweiten Weltkriegs“ wurde dem deutschen Volke durch Adolf Hitler selbst in seiner Rede vor dem Deutschen Reichstag am 1. September 1939 mitgeteilt:

 

Tonband:

„Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch bereits durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurück geschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!“

 

Zwei Angaben in Hitlers Rede stimmten nicht. Zum ersten: nicht ab 5 Uhr 45, sondern schon ab 4 Uhr 45 wurde geschossen. Hier hat Adolf Hitler sich geirrt oder sich einfach versprochen. Im zweiten Falle hat er schlechthin gelogen. Die regulären polnischen Soldaten, die angeblich auf deutschem Territorium operierten, waren Deutsche, die von Heydrich und Himmler unter Beihilfe des Abwehrchefs Canaris ausgesucht, ausgebildet, in polnische Uniformen gesteckt und eingesetzt worden waren. Die eingeplanten Toten wurden aus einem Konzentrationslager beschafft. Das alles wusste Adolf Hitler. Aber er brauchte einen „Zwischenfall“, um endlich losschlagen zu können.

 

Nach Hitlers Rede, am Beginn eines beispiellosen Angriffs- und Eroberungskrieges, sangen die Reichstagsabgeordneten das Deutschlandlied. Wussten sie, was sie da sangen? Das je nach den Umständen mehrdeutige Deutschlandlied war ursprünglich ein Protestsong. Ein politischer Emigrant, Hoffmann von Fallersleben, hatte es 1841 im Exil auf dem damals englischen Helgoland gedichtet. Es war eine Kampfansage an feudale Fürstenherrlichkeit in deutscher Kleinstaaterei. Und neben der Einigkeit forderte es auch das Recht und Freiheit als des Glückes Unterpfand. Ein Beispiel mehr, wie Wort und Ton von Mächtigen ge- und missbraucht wurden und werden.

 

Die Wehrmacht brauchte nur vier Wochen, um die Gegenwehr der an Zahl, Ausrüstung und Führungsqualität weit unterlegenen polnischen Armeen zu zerschlagen. Keine Tapferkeit vermochte dieses Defizit auszugleichen.

 

Am 3. September 1939, zwei Tage nach dem deutschen Einfall in Polen, aber wurde der Zweite Weltkrieg im Grunde bereits entschieden und die Niederlage Deutschlands festgeschrieben. Um 11 Uhr morgens hatte – nach Ablauf eines zweistündigen Ultimatums – England Deutschland den Krieg erklärt. Einige Stunden später folgte die französische Kriegserklärung.

 

Zum ersten Male hatte Adolf Hitler das Risiko falsch eingeschätzt. Er hatte fest mit einer Neutralität Englands gerechnet, mit dem er sich eines Tages über die Aufteilung der Welt einigen wollte.

 

Frankreichs Kriegserklärung kam ihm – wenn auch in diesem Augenblick kaum erwartet – doch recht. Frankreich zu besiegen und damit „die Schmach des Versailler Diktatfriedens“ auszulöschen, musste Adolf Hitler, dem Meldegänger an der Westfront im Ersten Weltkrieg, ein Lebensziel ersten Ranges sein.

 

Zwei Jahre lang aber schien Adolf Hitler noch alles zu gelingen, was er anpackte:

 

1939:

Polen besiegt und besetzt;

 

 

1940:

Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und Luxemburg besetzt;

Frankreich in sechs Wochen niedergeschlagen und seinen Nordteil einschließlich Paris und die Atlantikküste zum besetzten Gebiet erklärt.

Dieser Blitz-Feldzug war Hitlers strahlendster Erfolg und mit Recht konnte er ihn auch als seine eigene persönliche Leistung empfinden. Er hatte die Vorstellungen Guderians von selbständig operierenden Panzer-Armeen

 

gegen die Traditionalisten in der Wehrmachtsführung durchgesetzt; während Fuller in England und de Gaulle in Frankreich mit gleichen Vorstellungen an ihren konservativen Generälen gescheitert waren;

es war auch Adolf Hitler gewesen, der den veralteten Schlieffen-Plan beiseite schob und sich für den „Sichel-Schnitt“ von Mansteins entschied, der einen Panzerdurchbruch durch die Ardennen zur Atlantikküste versah. Die klassischen Strategen sowohl in Deutschland wie aber auch in Frankreich hielten einen solchen Durchbruch aus topographischen Gründen für undurchführbar.

1941:

Jugoslawien und Griechenland besetzt.

 

Praktisch beherrschte Adolf Hitler damit das außerrussische Europa. Nur England behauptete sich. Eine Invasion Englands aber war in den Kriegsvorbereitungen Adolf Hitlers nicht vorgesehen. Der Versuch, wenigsten die deutsche Lufthoheit zu sichern, scheiterte („Schlacht um England“: 13. August bis 14. September 1940).

 

Am 22. Juni 1941 brach Adolf Hitler seinen eigentlichen Krieg vom Zaun: den Überfall auf die Sowjetunion, mit der er noch am 26. August 1939 einen Nichtangriffspakt und – in Geheimabkommen – auch eine Aufteilung Polens und weitere territoriale Abmachungen in Osteuropa und auf dem Balkan vereinbart hatte.

 

Noch einmal feiert die Kriegsmaschine Adolf Hitlers wahre Triumphe. In einer Serie von Durchbruchs- und Kesselschlachten werden die sowjetrussischen Armeen zerschlagen. Millionen von Toten und Gefangenen, Zehntausende von Geschützen und Tausende von Panzern verliert die Rote Armee. Die deutschen Truppen stehen im November vor Leningrad und Moskau. Adolf Hitler spricht von dem „russischen Koloss, dessen tönerne Füße zerschlagen sind, so dass keine Macht der Welt ihn wieder aufrichten kann“.

 

Dann kam – am 6. Dezember 1941, für alle Welt sichtbar – die große Wende. Ein harter Winter überfiel die in Sommerausrüstung angetretenen deutschen Truppen. Die Sowjetunion mobilisierte ungeahnte Reserven an Truppen und Kriegsmaterial. Stalin ballte alle russischen Kräfte im „Großen vaterländischen Krieg“ zusammen. Und schließlich waren es die Fahnen der Sowjetunion, die Ende März 1945 auf dem Reichstagsgebäude in Berlin flatterten.

 

Ich muss es mir versagen, den weiteren militärischen Verlauf nach dem 6. Dezember 1941 auch nur summarisch darzustellen. Presse, Rundfunk und Fernsehen haben es in diesen Tagen eindringlich und eingehend getan. Aber auf einiges möchte ich noch hinweisen. Am 6. Dezember 1941 musste auch ein Adolf Hitler wissen, dass der Krieg für Deutschland nicht mehr zu gewinnen war.

 

Am 7. Dezember 1941 überfielen die Japaner – nunmehr sicher, keinen Angriff von der Sowjetunion mehr befürchten zu müssen – die fernöstliche Kriegsflotte der Amerikaner in Pearl Harbour, was die Kriegserklärung der USA an Japan zur Folge hatte. Am 11. Dezember 1941 – fünf Tage nach dem Desaster der deutschen Armeen vor Moskau – erklärte Adolf Hitler den USA den Krieg. Weder vertragliche noch militärische Zwänge machten diese Wahnsinnstat unumgänglich. Warum also?

 

Die Antwort kann uns nur die Pathologie liefern. Adolf Hitler fühlte sich keiner Gemeinschaft, keiner Gruppe verantwortlich. Er empfand sich als ein „von der Vorsehung“ Auserwählter und Berufener. Nur so erklärt sich auch die Ungeheuerlichkeit, dass er schicksalhafte Entscheidungen, wie zum Beispiel den Zeitpunkt des Kriegsbeginns, von Überlegungen über sein Lebensalter abhängig machte. Als er einsehen musste, dass der Krieg verloren und sein Lebensplan gescheitert war, gab er dem deutschen Volke die Schuld. Es war nicht tapfer, nicht zäh, nicht hart genug gewesen. Es hatte sich damit des „Führers“ unwürdig erwiesen. So mochte es denn die Folgen tragen und untergehen. Der „Nero-Erlass“ vom 19. März 1945 belegt diese Denkweise schlüssig. Aber auch schon 1941 finden sich solche Aussagen Hitlers. Ein krimineller Psychopath herrschte in Deutschland.

 

Die „Rote Armee“ stand bereits an der Oder, die Amerikaner überschritten den Rhein, da durchzogen – auf Hitlers Befehl – immer noch Gruppen von Militärpolizisten, SA- und SS-Männern den noch unbesetzten Teil Deutschlands und erschossen, erhängten oder köpften jeden, der den Amoklauf nicht mitmachen wollte.

 

Ein geradezu gespenstisch anmutender Beginn dieser letzten Kampagne war Goebbels Rede im Sportpalast in Berlin vom 18. Februar 1943. Hier ein Ausschnitt:

 

(Tonband)

 

Ich frage Euch: Wollt Ihr den totalen Krieg? (Stürmische Rufe: „Ja!“ Starker Beifall.) Wollt Ihr ihn (Rufe: „Wir wollen ihn!“), wenn nötig totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können? (Stürmische Rufe: „Ja!“ Beifall.)

 

Fünftens: Die Engländer behaupten, das deutsche Volk hat sein Vertrauen zum Führer verloren! (Stürmische Empörung und Pfui-Rufe, lang anhaltender Lärm.) Ich frage Euch – (Sprechchöre: Führer befiehl, wir folgen!“ Heilrufe), ich frage Euch: Vertraut Ihr dem Führer?“ (Rufe, u. a. „Ja!“) Ist Eure Bereitschaft, ihm auf allen seinen Wegen zu folgen und alles zu tun, was nötig ist, um den Krieg zum siegreichen Ende zu führen, eine absolute und uneingeschränkte? (Lebhafte Rufe: „Ja!“ ) ...

 

Er erwartet von uns eine Leistung, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt! Wir wollen uns seiner Forderung nicht versagen; wie wir stolz auf ihn sind, soll er stolz auf uns sein können. In den großen Krisen und Erschütterungen des nationalen Lebens erst bewähren sich die wahren Männer, aber auch die wahren Frauen. Da hat man nicht mehr das Recht, vom „schwachen Geschlecht“ zu sprechen, da beweisen beide Geschlechter die gleiche wilde Kampfentschlossenheit und Seelenstärke. Die Nation ist dazu bereit. Der Führer hat befohlen, und wir werden ihm folgen!

 

Wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung und der inneren Aufrichtung. Wir sehen ihn greifbar nahe vor uns liegen, - wir müssen nur zufassen! Wir müssen nur die Entschlusskraft  aufbringen, alles seinem Dienste unterzuordnen; das ist das Gebot der Stunde! Und darum lautet von jetzt ab die Parole: Nun, Volk, steh’ auf – Sturm, brich los! (Stürmische Heilrufe und Beifall, Rufe: Unser Gauleiter – Sieg Heil! Sieg Heil!“  Heilrufe; das Deutschlandlied wird intoniert.)

 

Es muss angemerkt werden, dass der Hexenmeister der Propaganda, der Goebbels ja zweifellos war, sein Publikum sorgfältig ausgewählt hatte. Es waren nur zuverlässige Parteigenossen, darunter Kriegsversehrte, Rüstungsarbeiter und gefügige Intellektuelle, zusammenbeordert worden. Und die Sowjetarmeen hatten wenige Wochen zuvor die 6. Armee in Stalingrad zur Kapitulation gezwungen. Nach dem Willen Adolf Hitlers sollte das deutsche Volk nicht weiterleben, nachdem der Führer gescheitert war.

 

Es ist wohl das Verdienst Sebastian Haffners, in seinem Buche „Anmerkungen zu Hitler“ mit Nachdruck auf die „Aktion Gewitter“ vom 22. August 1944 aufmerksam gemacht zu haben. Auf Hitlers geheimen Befehl wurden schlagartig rund fünftausend ehemalige Minister, Bürgermeister, Parlamentarier, Parteifunktionäre und politische Beamte aus der Weimarer Republik verhaftet und festgesetzt, darunter zum Beispiel Konrad Adenauer und Kurt Schumacher. Sebastian Haffner bestreitet jeden Zusammenhang dieser Aktion mit dem 20. Juli 1944 und deutet sie als Hitlers Versuch, mögliche Nachfolger auszuschalten, einen Bethlehemitischen Kindermord in Deutschland im 20. Jahrhundert.

 

An diesem 22. August war das unbesiegte England zu einem riesigen Sammellager geballter amerikanischer und englischer  Militärmacht zu Land, auf dem Wasser und in der Luft geworden. Am 6. Juni 1944 betrat diese Macht in der Bretagne den europäischen Kontinent, am 25. August 1944 zog sie in Paris ein. Der Untergang des „Dritten Reiches“ war für jeden, der sich einen Rest kritischer Urteilskraft bewahrt hatte, nur noch eine Frage von Monaten. Am 9. Mai 1945 kapitulierte die Großdeutsche Wehrmacht bedingungslos.

 

Es bleiben die Fragen: wie konnte es zur Herrschaft der NSDAP und damit Adolf Hitlers in der Weimarer Republik kommen? War sie unvermeidlich?

 

Die Weimarer Republik ist nur gut 14 Jahre als geworden; das „Dritte Reich“, das ein „Tausendjähriges“ werden wollte, dauerte nur gut 12 Jahre. Die erst dreißigjährige „provisorische“ Bundesrepublik Deutschland ist jetzt bereits älter als die Weimarer Republik und das „Dritte Reich“ zusammen geworden sind.

 

So blieb der Weimarer Republik einfach die Zeit versagt, zu ihrer Identität zu finden. Hinzu kam, dass sie den größten Teil ihres kurzen Lebens und ihrer Kräfte damit verbringen musste, ihre Erbschäden zu beseitigen. Und diese Erbschäden waren es vor allem, die schließlich einen Adolf Hitler an die Macht brachten.

 

Als erster, folgenschwerer „Erbschaden“ müssen die Bestimmungen des Versailler Vertrages genannt werden. Die Weimarer Republik musste moralisch, politisch, ökonomisch und militärisch für das büßen, was das Kaiserreich angerichtet hatte.

 

Moralisch:

Sie musste sich die „Alleinschuld Deutschlands“ am Ersten Weltkrieg diktieren lassen.

Politisch:

Sie musste unter anderem eine fünfzehnjährige Rheinlandbesetzung akzeptieren.

Ökonomisch:

Sie musste anfangs unbegrenzten, unerfüllbaren Reparationsleistungen zustimmen.

Militärisch:

Sie durfte nur eine Berufsarmee von 100.000 Mann ohne schwere Waffen, Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe unterhalten.

 

Die psychologisch-politischen Folgen waren umso katastrophaler, als Millionen von Deutschen sich stur weigerten, die Tatsache der deutschen militärischen Niederlage zur Kenntnis zu nehmen. Für die Deutschen waren die „Novemberverbrecher“ schuld an der deutschen Niederlage. Sie hatten der „ruhmreichen Armee“ den „Dolch in den Rücken“ gestoßen. Dabei war die November-Revolution 1918 die Folge und nicht die Ursache der militärischen Niederlage. Schließlich hatte Ludendorff selbst am 29. September 1918 den Krieg für verloren erklärt. Wie der Erste Weltkrieg am 1. August 1914 in einem heute unvorstellbaren, nationalistischen Taumel begonnen hatte, endete er mit einem andauernden, heute noch schwer erklärbaren Selbstbetrug von Millionen Deutschen. Diese Grundstimmung war der ständige fruchtbare Nährboden der NS-Propaganda bis zum Januar 1933. Die „Weimarer Verfassung“ als Dokument einer parlamentarischen, republikanischen Demokratie entsprang einer Volksbewegung, die im Grunde nicht darauf, sondern vor allem auf ein Ende mit dem Kriege zielte. Man wollte nicht länger mehr töten und getötet werden, hungern und frieren, wo doch offensichtlich alles sinnlos geworden war. So kam es zur Revolte der Matrosen in Kiel und, von dort ausgehend, zur Verjagung der Fürsten, zur Abdankung des Kaisers und zur Ausrufung der Republik durch Scheidemann am 9. November 1918 in Berlin. Am 19. Dezember 1918 beschloss der Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte mit 400 gegen 50 Stimmen, die Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 stattfinden zu lassen.

Das war die Geburtsstunde der parlamentarischen Demokratie in Deutschland.

 

Von 1919 bis 1923 verging aber kaum ein Jahr, wo es nicht zu lokalen oder regionalen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen linksrevolutionären Arbeitergruppen und Freikorps kam, die im Namen einer parlamentarisch-demokratischen Regierung handelten, aber nur unter der kaiserlichen Flagge Schwarz-weiß-rot marschierten.

 

Denn der Staat von Weimar – und das war sein entscheidender Erbfehler – hatte seit seiner Gründung ein ganzes Heer von Verfassungsfeinden in seinem öffentlichen Dienst. Zu einem Generationswechsel ließ ihm die Geschichte keine Zeit. Weder das Heer der Verwaltungsbeamten, noch die Justiz, noch die Universitäten, schon gar nicht das überwiegend adlige Offizierskorps der Reichswehr fühlten sich der Republik verpflichtet. Wo es einen „Bund republikanischer Richter“ und einen „Bund republikanischer Offiziere“ gab, musste man sich fragen, was denn die anderen waren.

 

Nicht die Nazis oder die Kommunisten im öffentlichen Dienst haben die Weimarer Republik zerstört, sondern die konservativen, antirepublikanischen Bürgerlichen, denen alles zutiefst zuwider war, was auch nur im geringsten nach Bürgerrechten, Volksvertretung, Mitbestimmung, Kontrolle der Macht roch.

 

Mit dem „Dritten Reich“ und dem Zweiten Weltkrieg zahlten die Deutschen einen hoffentlich letzten grausigen Preis für die nicht vollzogene Bürgerliche Revolution. Der 30. Januar 1933 und sein Folgen waren nur möglich, einerseits weil die Volksvertretung in der Paulskirche in Frankfurt 1848 und 1849 gescheitert war, und andererseits das deutsche Bürgertum seit 1871 von einem Weltreich träumte.

 

Die Weltwirtschaftskrise allein, die mit dem Börsenkrach in New York am 24. Oktober 1929 ausgelöst wurde und die in Deutschland zu einem 6-Millionen-Heer von Arbeitslosen Ende 1932 führte, erklärte die Propaganda-Erfolge Hitlers nicht. In den USA und in England waren die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen dieser Krise noch schlimmer als in Deutschland; aber sie brachten dort keinen Hitler an die Macht.

 

Es war nicht möglich, in einem so kurzen Beitrag die Entwicklung der Weimarer Republik und den Verlauf des Zweiten Weltkrieges auch nur summarisch darzustellen. Es konnten nur einzelne Fakten und offene Fragen angesprochen werden. Bleibt noch die Frage: gab es vor dem 30. Januar 1933 unter den damals gegebenen Umständen überhaupt eine Möglichkeit, Hitlers Herrschaft und damit auch diesen Zweiten Weltkrieg zu verhindern?

 

Ich selbst – und sicher ich nicht allein – sah eine solche letzte Möglichkeit am 20. Juli 1932, als Reichskanzler von Papen die Preußische Regierung mit Ministerpräsident Otto Braun ihres Amtes enthob. Die Preußische Regierung reagierte legalistisch mit einer Klage vor dem Preußischen Staatsgerichtshof – in der entscheidenden Frage übrigens erfolglos.

 

Hätte sie sich damals geweigert, sich diesem Staatsstreich von Papens zu fügen, hätte die NSDAP, die SA und die SS verboten, das „Reichsbanner“, das darauf brannte, zum Hilfsorgan der absolut zuverlässigen Polizei erklärt und aus den Arsenalen der Polizei bewaffnet, so wären – ich weiß: nur vielleicht – die Herrschaft Hitlers und der Marsch in den Zweiten Weltkrieg verhindert worden.

 

Hermann Basse und Mathias Teisen, Otto Thielemann, Kuno Rieke, Heinrich Jasper und die zehn in Rieseberg Ermordeten – um nur einige Braunschweiger Opfer des nationalsozialistischen Terrors zu nennen – wären nicht so qualvoll gestorben und dieser Zweite Weltkrieg mit Auschwitz und Maidanek hätte nicht stattgefunden. Ich weiß um alle „Wenn und Aber“ dieser gedanklichen Spielerei. Doch am 20. Juli 1932 dachte auch ich so.

 

Das stolze Schlusswort, eine Rede am Grabe, für die glücklose erste parlamentarische Republik in Deutschland sprach am 23. März 1933 der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Otto Wels.

 

Die Reichstagswahlen vom 5. März 1933 hatten der NSDAP trotz wilden Terrors und riesiger Propaganda nicht die absolute Mehrheit gebracht.

 

Die Sitzung fand in der Kroll-Oper in Berlin statt. Den fast ausnahmslos verhafteten 81 Abgeordneten wurden die Mandate aberkannt. Auch neun SPD-Abgeordnete waren verhaftet.

SA-Kolonnen hielten den Sitzungssaal, die Gänge und den Platz vor der Oper besetzt.

Zur Entscheidung stand das „Ermächtigungsgesetz“, das die Selbstabdankung des Parlaments bedeutete. Nur die 94 anwesenden SPD-Abgeordneten stimmten mit „Nein“.

Otto Wels begründete diese Ablehnung. Er sagte unter anderem:

 

„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen, dass sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. ...

Noch niemals, seit es einen deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in einem solchen Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muss sich umso schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt. ...

 

Die Verfassung von Weimar ist keine sozialistische Verfassung. Aber wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechts, die in ihr festgelegt sind. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. ...

Wir grüßen die Verfolgten und die Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.“