Wilhelm Bracke zum Gedenken

 

Wir, die Braunschweiger Sozialdemokraten, gedenken Wilhelm Brackes, der vor 100 Jahren, am 27. April 1880, starb. Wir gedenken des Mannes, der nicht nur der Gründer der Braunschweiger SPD war, sondern der auch zu den Großen der deutschen Arbeiterbewegung gehört. Aber auch andere Braunschweiger Institutionen und Verbände könnten sich in diesen Tagen Wilhelm Brackes erinnern. Der hiesige Männer-Turn-Verein (MTV) etwa, denn er wurde am 29. September 1860 von dem achtzehnjährigen Wilhelm Bracke gegründet. Seine Rede bei der Gründung dürfte auch sein erster bedeutender öffentlicher Auftritt gewesen sein. Wie auch später in der Arbeiterbewegung fiel ihm schon hier das Amt des Kassenwartes zu. Der MTV war auch der Rahmen, in dem Wilhelm Bracke als Neunzehnjähriger seinen ersten politischen Konflikt durchstand. Die Stadt Braunschweig beging 1861 ihre Tausendjahrfeier. Natürlich gab es einen großen Umzug und natürlich marschierten auch die Turner auf. In ihnen lebten die Ideale vom März 1848 noch, sie träumten noch von der deutschen Einheit in einer demokratischen Republik. Als Erinnerung und Mahnung hatte man in Braunschweig eine alte schwarz-rot-goldene Fahne aufbewahrt. Sie wurde von den Turnern des MTV im Festzug mitgeführt. Die Braunschweiger Polizei hatte dem Vorstand des MTV mitgeteilt, dass sie das Mitführen dieser Fahne höchst ungern sähe; hatte es aber nicht ausdrücklich verboten. Aus Protest gegen diese schwarz-rot-goldene Fahne bei der Turnerschaft traten die beiden Vorsitzenden und der Schriftführer aus dem MTV aus. Wilhelm Bracke bekannte sich zu Schwarz-Rot-Gold und blieb Kassenwart. –

Ein Jahr darauf (1862) wurde vom MTV die Freiwillige Turnerfeuerwehr gegründet. Einer ihrer beiden Zugführer war Wilhelm Bracke. –

Und doch dankte der MTV seinem Gründer und vielfachen Gönner Wilhelm Bracke seine Leistung schlecht. Es geschah mehr als zehn Jahre später, im Sommer 1872. Wilhelm Brackes Saat war in Braunschweig aufgegangen. Eine ständig wachsende, ständig selbstbewusster auftretende Arbeiterbewegung war entstanden. Sie war nicht zuletzt Wilhelm Brackes Werk und Verdienst. Dem überwiegend national-liberalen MTV musste Wilhelm Bracke mehr und mehr fremd erscheinen. Als der Schriftführer des „Volksfreund“, Wilhelm Blos, in zwei Artikel („Die Enthüllung des Jahn-Denkmals zu Berlin“ und „Das Turnfest in Bonn“) den Chauvinismus der deutschen Turnerschaft anprangerte, schloss der MTV seinen Gründer und Mäzen Wilhelm Bracke wegen „unsittlichen Verhaltens“ aus. Eine große öffentliche Versammlung erklärte am 20. September 1872 diesen Ausschluss für eine grobe Beleidigung der Sozialdemokratischen Partei und forderte alle Arbeiter auf, aus dem MTV auszutreten. Dieser Vorgang ist symptomatisch für eine Polarisation, die schließlich zur Bildung des „Arbeiter-Turn- und Sportbundes“ im Gegensatz zum „Deutschen Turner-Bund“ geführt hat.

Die 1861 so umstrittene schwarz-rot-goldene Turnerfahne – wenn sie die Zeitläufe überlebt haben sollte – mit einem Trauerflor hätte beim Gedenken an Wilhelm Brackes hundertsten Todestage sehr wohl ihren Platz gehabt. –

 

Korrekterweise sei hier aber auch erwähnt, dass der MTV, als er 1910 sein fünfzigjähriges Jubiläum feierte, getreu berichtete: „Die Wiederaufnahme der Turnübungen in unserer Stadt und die Begründung unseres Vereins ist auf die Tätigkeit des Kaufmanns Wilhelm Bracke zurückzuführen.“

 

Ich konnte nicht feststellen, ob 1960, aus Anlass des hundertjährigen Geburtstages der MTV, Jubiläumsaufsätze mit oder ohne gebührende Nennung Wilhelm Brackes erschienen sind.

 

Nicht nur der MTV und die Feuerwehr, auch das Martino-Katharineum, damals ein Real-Gymnasium, könnte Wilhelm Bracke gedenken. Er war bis 1856 dessen Schüler.

Der Vater Wilhelm Brackes, Andreas Bracke, war der Sohn eines Mühlenbesitzers in Groß Denkte an der Asse. Er lernte dort die Müllerei und ging – nach alter Gesellenart – auf Wanderschaft. Sie soll ihn bis nach Konstantinopel geführt haben. Der leidigen Erbauseinandersetzung mit seinen beiden jüngeren Brüdern müde, zog er nach Braunschweig und verdingte sich an der Burgsmühle. Hier brachte er es schnell zum Müllermeister und Administrator. Hier wurde auch am 29. Mai 1842 sein erstes Kind, Wilhelm, geboren.

 

Der Vater Wilhelm Brackes war zweifellos ein außerordentlich tüchtiger Müller und ein überaus erfolgreicher Geschäftsmann. Als er schließlich seinen Erbschaftsanteil gerichtlich zugesprochen bekam, kaufte er 1856 das stattliche Haus Hintern Brüdern 9 und eröffnete dort eine florierende Mehl- und Getreidehandlung. Für den damals vierzehnjährigen Sohn Wilhelm war dieser neue Abschnitt im Arbeitsleben seines Vaters kein frohes Ereignis, denn er bedeutete seinen Abgang aus der Obersekunda des Martino-Katharineums, weil sein Vater ihn im Geschäft brauchte, das der Sohn einmal weiterführen sollte.

 

Der Sohn aber schrieb dem Vater: „... Mein innigster Wunsch möge mir Erfüllung werden. Ich will Physik und Chemie studieren, um an dem Fortschritt der Menschheit Anteil zu nehmen. Ich will nicht Taler auf Taler häufen.“

Schon der zwölfjährige Schüler hatte mehrfach einige Sprüche immer wieder niedergeschrieben, weil sie ihm so sehr aus der Seele gesprochen schienen; so zum Beispiel:

„Ich will keinen Menschen darum verachten, weil er arm ist oder schlechte Kleider trägt. Der Reiche kann bald arm sein und der Arme reich werden.“ (22.2.1855)

„Handle immer redlich mit deinen Mitmenschen und suche sie nicht durch Falschheit und Betrug zu überlisten.“ (22.2.1855)

„Auf Kosten anderer Menschen sollen wir nie unseren Wohlstand erhöhen, wie unseren Zustand dadurch verbessern, dass wir das ihrige verkürzen.“ (11.12.1854)

 

Man könnte diese Bekenntnisse zu einer radikalen sozialistischen Moral als Ausdruck kindlich-jugendlicher Schwärmerei einfach ad acta legen, hätte nicht der erwachsene Wilhelm Bracke sie ständig und immer wieder praktiziert. Wieviele Zehntausende von Mark er etwa in den Jahren 1865 bis 1880 seinen politischen Idealen geopfert hat, wird kaum noch exakt zu ermitteln sein. Nur ein Beispiel: Am 15. Mai 1871 erschien die erste Nummer des „Braunschweiger Volksfreund“, noch als Lohndruck in der Druckerei Limbach. Erst ab Nr. 18 – der „Braunschweiger Volksfreund“ war ein Wochenblatt – war die neue, von Bracke gegründete Druckerei (Neue Straße 28) betriebsfertig. Wilhelm Bracke hatte 30.000,- Mark für Maschinen, Papier und sonstige Anschaffungen zur Verfügung gestellt. Allein dem „Volksfreund“ hat Wilhelm Bracke 200.000,- Mark geopfert. –

 

Nein, die Lieblingssentenzen des Dreizehnjährigen waren nicht knabenhafter Rigorismus, der bei fortschreitendem Alter verschwindet. Sie waren prägendes Merkmal der Persönlichkeit und galten bis zu seinem Tode. –

 

So ist auch die Abneigung des Vierzehnjährigen, als Handlungsgehilfe in das neu gegründete Geschäft seines Vaters einzutreten, nicht jugendliche Unreife, sondern Wissen um seine wirkliche Bestimmung. Vater und Sohn einigten sich auf einen mittleren Weg: Wilhelm verließ die geliebte Schule und trat als Handlungsgehilfe in das väterliche Geschäft ein; der Vater gestand zu, dass der Sohn sich als Gasthörer am Kollegium Karolinum, der späteren TH und heutigen TU, einschrieb. So blieb Wilhelm auch weiterhin Schüler Professor Aßmanns, der sowohl am Martino-Katharineum, als auch am Kollegium Karolinum zu seinen Lieblingslehrern zählte.

 

Professor Dr. Wilhelm Aßmann, ein engagierter Liberaler und als solcher Gegner aller sozialistischer Ideen, kam aus der deutsch-katholischen Bewegung und war Abgeordneter im Frankfurter „Vorparlament“ gewesen.

Im „Braunschweiger Sozialisten Prozess“ erklärte Wilhelm Aßmann: „Bracke war mein Schüler auf dem Kollegium Karolinum hieselbst. Er war einer meiner besten Schüler, hielt gern freie Vorträge, machte gern schriftliche Aufsätze und zeichnete sich aus durch großen Eifer, seltene Begabung und gründliches Studieren.“

Bernd Rother hat den Weg Wilhelm Brackes als Gesellschaftstheoretikers vom überzeugten Lasalleaner zum kritischen und weiter zum Marxisten nachgezeichnet. Inwieweit lässt sich dieser Wandel auch in der alltäglichen Politik Wilhelm Brackes nachweisen? Oder war die praktische Politik Wilhelm Brackes immer die gleiche?

 

Wir Braunschweiger hatten das große Glück, vom November 1946 bis zum Januar 1974 Georg Eckert unter uns zu haben. Aus politischem Sauberkeitsgefühl hatte er, der politisch engagierte Vollbluthistoriker, während der ganzen Zeit des Dritten Reiches keine Zeile mit aktuellem politischen Bezug geschrieben. Das Thema seiner Dissertation – es sei hier als Beleg für Georg Eckerts peinlich gewahrte Distanz zum NS-Staat angeführt – lautete: „Der Einfluss des Geschlechts- und Familienlebens auf die Bevölkerungsbewegung mikronesischer Inseln“ (1935)

Ab November 1946 war für Georg Eckert diese Periode selbst auferlegter Enthaltsamkeit vorbei. Er konnte sich ungehemmt seiner eigentlichen Leidenschaft, der politischen Geschichte, hingeben.

Eine Frucht dieses neuen Lebensabschnitts ist der Band I. des Werkes „100 Jahre Braunschweiger Sozialdemokratie“, erschienen 1965. Im Vorwort sagt der Verfasser: „Er behandelt vor allem die Periode, in der die Braunschweiger Sozialdemokratie überregionale Bedeutung besaß: die Ära von Wilhelm Bracke.“

Für jeden, der Wilhelm Bracke verstehen will, sei diese Zusammenstellung von Dokumenten, Briefen, Fotographien empfohlen. Im Nachwort dankt Georg Eckert besonders seiner damaligen Assistentin Rosemarie Sievers.

Auf Seite 258 – es ging um den Reichstagswahlkampf des Jahres 1881, also unter dem „Sozialistengesetz“ – äußert sich Georg Eckert zu dem von mir aufgeworfenen Problem, nämlich: inwieweit das Bekenntnis zum Marxismus die damalige SPD – Wilhelm Bracke war im Jahr zuvor verstorben – auch in ihrer praktischen Politik bestimmte. Georg Eckert schreibt:

„... Die Arbeiterpartei erklärte sich damit erneut zur Vertreterin der allgemeinen Volksinteressen, ja, wie es Wilhelm Liebknecht einmal ausgedrückt hatte, als Sprecherin „aller Volksklassen“, die kein „persönliches Interesse an der Fortdauer der herrschenden Missstände in Staat und Gesellschaft haben.“ Mochte eine derartige Propaganda auch dem theoretisch postulierten Klassencharakter der sozialistischen Bewegung widersprechen, so entsprach sie doch der Bewusstseinslage wichtiger Wählergruppen, ohne die in Städten wie Braunschweig weder mit parlamentarischen noch mit sonstigen Erfolgen zu rechnen war.“

 

Für diese Doppelschichtigkeit: Oberschicht marxistisch – Unterschicht - d. i. vor allem der Bereich der Agitation, volkssozial - gibt es Belege ohne Zahl. Für die Oberschicht hat Bernd Rother in der Entwicklung Wilhelm Brackes vom Lasalleaner zum Marxisten den zeitlichen Ablauf und Inhalt präzise dargestellt. Die Unterschicht stellt sich dar in allen Flugblättern, im „Volksfreund“, in den Reden und Schriften Wilhelm Brackes. Hier einige typische Beispiele:

 

Um die drohende politische und moralische Isolierung der Arbeiterschaft zu sprengen, verstärkte die Partei ihre Bündnispolitik. So wandte sie sich mit besonderen Aufrufen an die „ländlichen Arbeiter", an die „Handwerker, Gewerbetreibenden" und die übrigen Angehörigen der Mittelschichten, bei denen sich Wilhelm Bracke großer Beliebtheit erfreute:

„An die ländlichen Arbeiter.

Am 30. Juli (1878) ist der Wahltag. Von vielen Seiten werden den Wählern Hindernisse in den Weg gelegt. Vielen Arbeitern wird es erschwert werden, ihre Pflicht zu erfüllen. Um so mehr müßt ihr euch jetzt als Männer zeigen. Die Zeit zum Wählen muß man euch lassen; ihr habt nicht nöthig euch eures Rechts als freie Männer berauben zu lassen. Euch muß die Zeit gewährt werden, an den Wahltisch zu gehen.

Ihr habt vorläufig keine Maßregelung zu befürchten. Die Arbeitgeber können euch jetzt nicht entbehren, wo sie alle Hände voll zu thun haben. Und wenn ihr, Mann für Mann an die Wahlurne geht, um das zu thun, was euer Recht und was eure Pflicht ist, wenn ihr euch als Männer zeigen wollt, so kann euch nichts daran hindern.

Werft Harke und Spaten hin und geht an den Wahltisch! Wen ihr wählen sollt, das kann für euch keine Frage sein. Ihr könnt eure Stimme nur einem Manne geben, von dem ihr wißt, daß er jeder Zeit mit größter Aufopferung sein ganzes Leben und Streben dafür eingesetzt hat, daß auch das Recht des Geringsten zur Geltung komme.

Thut also am 30. Juli eure Pflicht und werft in die Wahlurne einen Stimmzettel für

Wilhelm Bracke in Braunschweig."

(abgedruckt bei Eckert, 100 Jahre Sozialdemokratie, 1965 S.234)

 

„An die Handwerker und Gewerbetreibenden.

Die Wahl steht vor der Thüre. Am 30. Juli habt ihr zu entscheiden, durch wen ihr eure Interessen vertreten sehen wollt, ob durch den Handelsgerichtsdirektor Bode oder durch W. Bracke . . .

Herrn Bode steht gegenüber W. Bracke. Ihr kennt ihn Alle von Jugend auf. Ihr saht ihn in seiner öffentlichen Wirksamkeit. Seit 5 ½ Jahren ist er Gemeindevertreter und es gibt unter euch wohl Keinen, der es nicht selbst schon anerkannt hat, daß er zum Heile der Bürgerschaft gewirkt hat. Anderthalb Jahre gehörte er dem Reichstage an. Er legte seinen Standpunkt betreffs der Zollpolitik klar. Er sagte, daß diese Frage nach dem praktischen Bedürfnisse zu entscheiden und in jedem einzelnen Falle zu prüfen sei, ob der Schutzzoll ein Bedürfniß des Gemein-Interesses sei oder nur eine Vergünstigung für einzelne Fabrikanten. Im ersteren Falle sei er kein Doktrinär des Freihandels und würde er für das zum Heile des Ganzen Nothwendige eintreten.

Mögen die Handwerker sich fragen, ob Bracke nicht bei jeder Gelegenheit gezeigt hat, daß ihm grade die Lage des kleinen Gewerbetreibenden am Herzen gelegen hat. Geschmeichelt hat er ihnen nicht, ebensowenig wie er den Arbeitern oder gar den Großen dieser Erde schmeichelt. Er hat es auch nicht verschmäht, und wird es auch in Zukunft nicht, euch entgegenzutreten und euch zu belehren, wenn ihr bei der Suche nach Abhülfe eurer Leiden euch nach seiner Ansicht auf falscher Fährte befandet.

Er hat ein Herz für das Volk, er hat Verständniß für seine Leiden und - was selbst der Gegner nicht zu bestreiten wagt - er ist ein Ehrenmann. Denkt an die Uebelstände der letzten Jahre, denkt an die Ausbeutung des Volkes durch schwindelnde Gründer, denkt an die Untergrabung eures Wohlstandes, und fragt euch dann: Wo und wann ist jemals Herr Bode aufgetreten, wo und wann hat er Lust oder Neigung verspürt, den Prätentionen der herrschenden Küken entgegenzutreten?

Herr Bode ist ein .guter Mensch', das geben wir zu, er ist sogar ein jovialer Mensch -, er kann sogar Witze machen (das kann Bracke nicht), und wenn es sich darum handelte, einen guten Gesellschafter zur munteren Unterhaltung zu wählen, wir würden unbedingt Herrn Bode den Vorzug geben; da es sich aber darum handelt, einen ernsthaften Vertreter für ernsthafte Interessen zu wählen, so bleibt euch nichts anderes übrig, als eure Stimme zu geben dem bewährten Volksmanne

W. Bracke."

(abgedruckt bei Eckert, 100 Jahre Sozialdemokratie“, 1965, S.235)

 

Und zum 1. Oktober 1890 – also zehn Jahre nach dem Tode Wilhelm Brackes – veröffentlichte die SPD Braunschweig anlässlich des Auslaufens des Sozialistengesetztes „Lesefrüchte zum 1. Oktober“, worin sie ein gutes Dutzend Zitate berühmter Männer bringt, die den Ideen der Freiheit, der Menschenrechte und der Menschenwürde huldigen. Darunter waren: Börne, Buckle, Sophokles, Tacitus, Cicero, St. Augustin, Spinoza, Friedrich der Große, Helvetius, Milton, Platon, Tolstoi. Das war völlig im Geiste Wilhelm Brackes.

 

Ich persönlich glaube, dass diese Zweischichtigkeit im Wilhelm Brackes Wesen mehr ist als eine Konzession an die Bewusstseinslage potentieller Wähler. Es war, so meine ich, die Übermächtigkeit seines sozialen Impetus, der aus Tiefen kam, aus denen zum Beispiel auch religiöse Grundströmungen quellen. Aus solcher Überzeugung mag wohl auch Willy Brandt von einer „Compassion“ gesprochen haben. Ich halte es für durchaus möglich, dass Georg Eckert, lebte er noch, mir zustimmen würde. –

 

Einer Forderung aber, die Wilhelm Bracke und noch Jahrzehnte nach seinem Tode die Sozialdemokratie auch in Braunschweig stürmisch bewegt hat, muss heute gedacht werden. Ich meine die Wahlrechtsparole. Für Ferdinand Lassalle – Bernd Rother hat es dargelegt – war das allgemeine, gleiche Wahlrecht der Hebel zu einer parlamentarischen Mehrheit, die die Staatskredite für seine Produktiv-Assoziationen bewilligen sollte. Das gleiche Wahlrecht blieb eine Hauptforderung der Sozialdemokratie, auch nachdem sie die Lassalleanischen Vorstellung von der Rolle der Produktiv-Assoziationen fallen gelassen hatte. Ab 1867 gab es ein allgemeines, gleiches Wahlrecht zum Norddeutschen Reichstag für alle Männer von 25 Jahren und darüber; ab 1871 galt dieses Wahlrecht auch für den Reichstag des Bismarckschen Kaiserreiches. In den Ländern aber und in den Gemeinden galt ein sehr unterschiedliches Dreiklassen-Wahlrecht, das den wenigen Reichen und den wenigen Gebildeten eine kaum zu erschütternde Mehrheit sicherte. Das Herzogtum Braunschweig hatte ein besonders reaktionäres Wahlrecht. Nur in Mecklenburg war es noch finsterer. Noch 1910, also 40 Jahre nach der Gründung des Kaiserreiches und 30 Jahre nach Wilhelm Brackes Tod konnte man am 26. Januar in „Volksfreund“ lesen:

 

„Der berühmteste Mann des Herzogtums Braunschweig, Wilhelm Raabe, der Ehrenbürger der Residenz, ist ein schlichter Wähler dritter Klasse, weil er kein akademisches Studium absolviert und es auch nicht verstanden hat, ein großes Vermögen zusammenzuschachern. Ein Hausbesitzer der Bruchstraße dagegen, der Braunschweiger Hurengasse, der von der strafgesetzlich verbotenen, in Braunschweig aber von der Polizei reglementierten Kuppelei lebt, ist nicht nur Wähler der ersten Klasse, sondern gehört noch zu den im Wahlgesetz besonders bevorrechteten Besitzern höchster Einkommen.“

 

Ein halbes Jahrhundert erlebten die deutschen Wähler buchstäblich am eigenen Leibe dieses Nebeneinander von gleichem und ungleichem Wahlrecht. Kein Wunder, dass wohl keine andere Forderung der Sozialdemokratie in den Ländern und Gemeinden so überzeugte, wie die nach dem gleichen Wahlrecht. Hymnen und einprägsame Slogans für das gleiche Wahlrecht waren weit verbreitet.

 

Auch die Stadt Braunschweig war in jenen Jahrzehnten ein ständiges Schlachtfeld für ein gleiches Wahlrecht. Es begann mit Wilhelm Bracke und endete mit Heinrich Jasper. Ich selbst habe noch als Schulbub miterlebt, wie Polizisten hoch zu Ross versuchten, Tausende von Demonstranten auf dem Hagenmarkt auseinander zu treiben. Wer mehr darüber wissen möchte, lese die kleine Schrift

„Zigeunerblut im Aktenschrank“ vom Homo.

 

Hinter dem Pseudonym verbirgt sich Richard Wagner, ein Nachfolger Samuel Kokoskys in der Redaktion des „Volksfreund“. Mit Sicherheit kann es in der öffentlichen Bücherei, Hintern Brüdern, ausgeliehen werden. Es ist für jeden unerlässlich, der eine lebendige Vorstellung von der SPD in Braunschweig in der Aera nach Wilhelm Bracke gewinnen möchte. Und dazu ist es für jedermann gut zu lesen. –

 

Unlösbar verbunden mit der Forderung nach dem gleichen Wahlrecht war von Anfang an die Forderung nach angemessenen Diäten. Das gleiche Wahlrecht bleibt ein ungleiches, solange jemand sich nicht zur Wahl stellen kann, weil er alle seine Zeit zum Broterwerb braucht. Das meinte auch Anatole France, als er sagte: „Das Gesetz verbietet den Armen wie den Reichen gleicher Weise, Brot zu stehlen, betteln zu gehen und unter Brücken zu schlafen.“

 

Was bleibt uns von Wilhelm Bracke, ein Jahrhundert nach seinem Tode? Zunächst die Verpflichtung, in Dankbarkeit die Erinnerung an einen Bürger unserer Stadt zu pflegen, der selbstlos bis an die Grenzen seiner Kraft den Ärmsten, den Zukurzgekommenen helfen wollte; an einen Mann, der die Mittel besaß, ein Leben ganz in den Dienst der Naturwissenschaften zu leben; an einen Mann, der nicht mit 38 Jahren zu sterben brauchte, hätte er sich alljährlich einige Kurwochen in Davos gegönnt, statt sich im  Dienste seiner sozialen Verpflichtung aufzuzehren.

 

Sind seine Vorstellungen von Gesellschaft und Staat auf 1980 übertragbar? Ganz oder teilweise?

Dieses Jahrhundert von 1880 bis 1980 ist zweifellos dasjenige, das unsere Welt am tiefsten verändert hat. Nur wenige, vor allem von der Natur vorgegebene Fakten sind 1980 noch so, wie sie 1880 waren. Inzwischen ist die ganze Erdbevölkerung zu einer Schicksalsgemeinschaft auf Gedeih und Verderb zusammengewachsen. Wie hätte jemand, der 1880 starb, die Probleme des Jahres 1980 exakt voraussehen und uns Heutigen konkrete Lösungen hinterlassen können? Das gilt auch für Karl Marx, dessen hundertsten Todestag wir in drei Jahren begehen.

 

Also Wilhelm Bracke nur ein Kind seiner Zeit, nicht mehr hilfreich auch für unsere? Das wäre ein Missverständnis. Zeitlos gültig für alle Zeit bleiben zum Beispiel die Selbstlosigkeit als moralisches Gebot in der Politik, der leibhaftige Mensch als ihr Gegenstand, sein Bewusstsein als realer Faktor, seine ständige Weiterentwicklung zu einem sozial verantwortlichen Wesen, seine Reifung zu einem Bürger in einer Welt, wo über Krieg und Frieden, Elend und Wohlstand, Freiheit und Gerechtigkeit mehr und mehr nur noch global entschieden werden kann. Wir danken Wilhelm Bracke für seine Leistung in seiner Zeit und für die Maßstäbe, die er auch für unsere Zeit setzte.

 

Rede zum 100. Todestag Wilhelm Brackes am 27. April 1980 in Braunschweig