Vorleser
in den Arbeitsstuben der Zigarrenmacher
In der Zigarrenindustrie
blühte um 1865 die
Heimarbeit. In Dachstuben, Kellerräumen und halb verfallenen Buden saßen kleine Gruppen von „Hausarbeitern"
zusammen. Vom frühen Morgen bis in die Nacht mussten sie schaffen, um nur
das Allernötigste
zu verdienen. Aber eines hatten sie den Fabrikarbeitern voraus: Kein „Aufpasser" schaute
ihnen über die Schulter. Diese
Freiheit nutzten sie. Ein Kollege wurde beauftragt, politische und
wirtschaftliche Schriften vorzulesen. Seine Arbeit teilten sich die anderen.
So erwarben die
Zigarrenmacher Wissen und Bildung. Gewerkschaftliche Ideen fielen bei ihnen auf
fruchtbaren Boden. Und die Begabtesten unter ihren „Vorlesern" trugen später als führende Gewerkschafter oder
Reichstagsabgeordnete entscheidend dazu bei, dass sich das Schicksal der arbeitenden
Menschen besserte.
Der in oben stehender Anzeige genannte Heinrich
Rodenstein ist mein Großvater.
In den Jahren 1908 bis 1911, als ich eine Untere Bürgerschule in Braunschweig besuchte, musste ich jedes Mal, wenn es
im Herbst oder zu Ostern Zeugnisse gegeben hatte, im Sonntagsanzug mit den
Zensuren zu meinem Großvater kommen und erhielt von ihm immer eine blanke Mark
zur Belohnung.
Auch später noch ging ich oft zu
diesem Großvater, um 25 Zigarren für meinen Vater einzukaufen. Mein Großvater
war nämlich Zigarrenmacher. 25 Zigarren kosteten 1
Mark. Da es für seinen Sohn war, gab es zwei mehr.
Außerdem weiß ich noch, dass ich häufig mit einem Bestellschein für Rohtabak zu einer
Tabak-Großhandlung auf dem Bankplatz in Braunschweig geschickt wurde, um das
Sumatra-Deckblatt oder die Havanna-Einlage zu holen.
Dieser Großvater erzählte gern aus seinem
bewegten Leben. Er hatte z.B. am Krieg 70/71 teilgenommen und muss schon in frühen Jahren ein leidenschaftlicher Gewerkschaftler gewesen sein. So
hat er mir einmal berichtet, dass sie zu achten um einen Tisch herum saßen und
Zigarren im Akkord rollten. Er habe aber oft keine Zigarren gerollt, sondern
sei von seinen Kollegen zum Vorleser bestimmt worden. Von morgens bis abends
las er seinen Kollegen vor. Ich bin gewiss, dass es sich dabei überwiegend um gewerkschaftliche und politische Literatur gehandelt
hat. Auf diesem Weg haben die Marx und Lassalle, die Bebel, Liebknecht und
viele andere das Ohr der Arbeitenden erreicht. Am Ende der Woche wurde der Lohn
geteilt. Die sieben anderen gaben jeder 1/8 ihres Verdienstes für den Vorleser ab, so dass jeder mit 7/8 des Wochenlohnes nach
Hause ging.
Eine leise Frage: Wer von uns gibt
laufend 1/8 seines Einkommens für Bildung aus?
Prozessor H. Rodenstein - 1. Vorsitzender der GEW –
(1961)